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Rollfeld

Martin Voßwinkel - Rollfeld - Cover
Martin Voßwinkel - Rollfeld
erschienen 2000 anlässlich einer Einzelausstellung im

Kunstverein Erlangen
Galerie für Zeitkunst, Bamberg
Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen

Mit einer Einführung von
Michael Stoeber und Christine Vogt

36 Seiten
27 farbige Abbildungen
4 s/w Abbildungen

Einband Hardcover, Leinengebunden mit Prägedruck

Texte englisch/deutsch
Übersetzer: Hugh Landgridge, Detlev. E. Gross

Fotos: Uwe Fricke, Joachim Fliegner, Bernd Hägermann

Auflage: 700
ISBN-Nr.: 3-9805434-3-9



Der Wechsel ist die Konstante
Zu den "Rollfeldern" von Martin Voßwinkel

Am Anfang der neuen Werkserie von Martin Voßwinkel steht eine Art von Initiation. Ein Aha-Erlebnis der beinahe mystischen Art. Der Künstler hat bisher statische, blockhafte, in sich beruhigte Bilder geschaffen. Bilder, die in ihrer rissigen und schrundigen Faktur aus Sand und Erde und der Erde abgewonnenen Pigmenten aussehen, als seien sie ein Stück Natur. Als wollten sie die Differenz zwischen dem Kunstschönen und dem Naturschönen aufheben und widerlegen. Erst allmählich fügen sich auf diskrete Weise Farbpigmente ein in den Kanon des Werkes, ohne indes den Eindruck einer natürlichen und naturhaften Tektonik zu irritieren. Der Künstler verteilt Erde und Farben auf seinen Bildern in der Manier eines Bauern, der seine Felder bestellt. Allerdings vollziehen sich die quasi ritualisierten Bewegungsabläufe in hoher, meditativer Konzentration. Ganz auf sein Tun gerichtet, nimmt Voßwinkel gleichwohl mit geschärften Sinnen mikroskopisch genau wahr, was in seiner unmittelbaren Umgebung geschieht.

Eines Tages löst sich ein Brocken Erde aus einem Hang, als der Künstler dort die materia prima seiner Kunst sucht. Er rollt herab und hinterläßt eine winzige, kaum sichtbare Spur, die sich gleichwohl als Bild in das Gedächtnis des Künstlers gräbt. Dort beginnt sie zu wachsen, wird größer und breitet sich unaufhaltsam aus zu einer piktorialen Topographie, die ihre finale Signatur anläßlich eines zweiten Erlebnisses findet, das sich unauflöslich an das erste bindet. Einen feuchten Klumpen Lehm in der Hand, steht Voßwinkel sinnend über eine seiner Leinwände gebeugt. Plötzlich entgleitet der knetenden Hand ein Lehmkügelchen, rollt über das Bild und hinterläßt eine eindrückliche Spur. Damit ist der Weg zur Werkserie der "Rollfelder" unwiderruflich geebnet, und auch das Instrumentarium ihrer Realisation liegt dem Künstler klar vor Augen. Die rollende Kugel wird den Platz des gestaltenden Pinsels einnehmen.

Wie der Pinsel erscheint auch die Kugel in unterschiedlichen Größen und Härtegraden. Voßwinkel gewinnt sie aus verschiedenfarbigen Erden, denen er zum Teil Farbpigmente hinzusetzt. Er zerstößt und mischt das Ganze im Mörser und knetet und formt die Kugeln mit Hilfe von Wasser und Binder. Je nach Sättigungs- und Feuchtigkeitsgrad unterscheiden sich die Spuren, welche die Kugeln auf dem Bildträger hinterlassen. Sind Untergrund und Kugel eher trocken, wird die Spur unregelmäßig und krakelig. Ist die Kugel dagegen satt eingestrichen, bilden sich rechts und links der Spur Stege. Die Kugel übernimmt nicht nur die Funktion des Pinsels, sondern auch die des Spachtels. Mit der Kugel kann der Künstler im Bild Farbe auftragen, aber auch abtragen, ganz ähnlich wie das fallende Lehmkügelchen - Farbe aufnehmend - seine Spur bildete. In jedem Fall ist die Physiognomie dieser Kugelspuren immer anders, nie mit sich selbst identisch und sehr handschriftlich. Das ist angesichts der Lakonie der Spur von hohem ästhetischem Reiz. Gerade das Wechselspiel von Rekurrenz und Differenz fordert das Auge des Betrachters heraus.

Aber auch wenn Voßwinkel das Medium seiner Gestaltung wechselt, wird die ästhetische Provokation für den Betrachter nicht geringer. Neben dem Arsenal der Kugeln arbeitet der Künstler mit Schaumstoffringen, die er für seine Zwecke in unterschiedlichen Größen und Formaten aus Schaumstoffrollen zuschneidet, wie sie zum Aufbringen von Farbe im Bauhandwerk üblich sind. Die Spur dieser Ringe wirkt im Gegensatz zur oft zögerlichen und tastenden Spur der Kugeln stets zupackend, entschieden und präzise. Die Lineamente und Liniengepflechte, welche die Ringe produzieren, wirken stets wie Ausschnitte aus genau kalkulierten Ensembles. Mit der Wahl des unterschiedlichen Mediums verbindet sich auch die Produktion eines subjektiven versus objektiven Ausdrucks, als wolle Voßwinkel auf ironische Weise die große Kontroverse zwischen informeller und konstruktiver Kunst im letzten Jahrhundert paraphrasieren. Natürlich ist das scheinhaft, denn das eine wie das andere Bild unterliegt demselben tastenden und forschenden Gestus, gleichsam wie die berühmte, allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.

Daß beide Bilder, in Analogie zur Textsorte formuliert, im Grunde nur einer Bildsorte angehören, macht auch der für beide verbindliche Titel des "Rollfeldes" deutlich. Um in dieser Produktion für die nötige buchhalterische Übersicht zu sorgen, hat der Künstler seine Bilder durchnumeriert, wobei am Anfang stets das Jahr der Herstellung steht. Neben dem unterschiedlichen Gestus, mit dem sich die Spur in den Werken manifestiert, sorgen für äußerliche Differenzierung auch die unterschiedlichen Formate und Bildträger. Voßwinkel arbeitet auf Leinwand, Papier und Acrylglas. Manchmal verbindet er zwei bemalte Glasplatten zu einem Bild. Das bildliche alter ego sorgt dafür, daß die komplexen Lineamente durch doppelnde Vervielfachung noch komplexer werden, sich zugleich aber auch verräumlichen, und das Bild zum Bildobjekt wird (zum Beispiel "Rollfeld 99108"). In gewisser Weise läßt sich ein ähnlicher Effekt erkennen, wenn es sich nur um eine Glasplatte handelt, deren Linienspuren aber durch das reflektierende Licht als Schatten auf der dahinterliegenden Wand gedoppelt werden (wie bei "Rollfeld 99128").

Noch ein anderes, eminent wichtiges Element der Differenzierung ist damit angesprochen. Die Art, wie die Spur den Bildträger besetzt. Neben dem all over, dem nicht mehr zu übersehenden und aufzulösendem Gewirr und Gepflecht von Linien, die wie ein wucherndes Rhizom, ein in die Fläche projizierter Gordischer Knoten das Bild besetzen, steht die solitäre, einsame und nachvollziehbare Linie. Unnötig zu sagen, daß damit auch monochrome Erhabenheit gegen polychromem Sensualismus steht. Wirkt der sparsame Gestus puristisch und kathartisch, zieht die labyrinthische Linientextur den Blick in einen visuellen Sog, in dem er unterzugehen droht. Allerdings ist auch die vermeintliche optische Beherrschung der einsamen Linie wiederum nur scheinhaft, was ihr schattenhaftes alter ego schon präludiert. Die Zweideutigkeit, die dort aufscheint, wird forciert durch den Eindruck einer mikroskopischen oder zellularen Struktur, die nur als Fragment gegeben ist, sich erst jenseits der Bildränder zum Ganzen formiert und uns folglich unbekannt bleibt.

Gleichgültig, wieviele Spuren der Künstler aus- und übereinanderlegt. Ob nur eine einsame Spur über das Bildfeld zieht oder bis zu zwölf Spurenschichten sich miteinander verbinden, das Bild ist nicht mehr Fenster zur Welt. Oder aber in einem ganz anderen Sinne, als Alberti das meinte. Es ist die Welt als Gleichnis gesehen. Das Bild spiegelt als Gleichnis die Komplexität einer Welt, die sich unserem Zugriff in ihrer Totalität immer stärker entzieht und die wir nur noch partiell ergreifen, ohne sie ganz zu begreifen. Schaut man genauer auf Voßwinkels Bilder, wird diese Dimension auch deutlich in einer weiteren Differenz. Der Gestus der Bilder ist stets entweder konzentrich oder exzentrisch. Mit konzentrisch ist gemeint, daß die Lineaturen innerhalb der Bildgevierts bleiben oder aber exzentrisch darüber hinausstreben. Die konzentrischen Bilder lassen weder Anfang noch Ende erkennen, sie sind eine Art geschlossenes System, das in seiner barocken, zirkulären und labyrinthischen Überfülle nicht zu dechiffrieren ist (Vergleiche "Rollfeld 99235"). Die exzentrischen Bilder dagegen zeigen ein offenes System, das indes ebensowenig zu durchschauen ist. Sie liefern uns kein Ganzes, nur noch Fragmente und damit Signaturen für unsere Zeit, wie sie typischer nicht sein könnten (Siehe "Rollfeld 99234").

Daß diese basale Blindheit gegenüber dem Sinn des Ganzen nicht in die Depression führen muß, machen nicht nur der federleichte Duktus und das optimistische Kolorit der Voßwinkel-Bilder deutlich, sondern auch die Performances und Installationen, die der Künstler im Zusammenhang mit dem Medium der Kugel durchgeführt hat. Ein Rollfeld aus 1414 kleinen Kügelchen aus Erde und Kurkuma, einem indischen Gewürz, hatte der Künstler 1997 in Bremen aufgebaut. Das Ganze bildete ein locker, aber durchaus wohl organisiertes Raster, ebenso klar und und konstruktiv wie Voßwinkels Schaumstoff-Spuren. Dann trat der Künstler mit bloßen Füßen, vorsichtig, aber entschieden in die Kugel-Reihen, um die Ordnung mit ebenso zarten wie festen Fußstößen in Unordnung zu bringen und zu verwirren. Auch hier ein Mixtum aus Planung und Zufall, nicht anders als bei der kreisend und suchend über das Papier irrenden Kugelhand. Bei einer zweiten Performance ließ sich der Künstler bei seinem Gang durch die Kugelreihen durch Zurufe, Fragen und Kommentare des Publikums leiten.

Eine andere Arbeit aus demselben Jahr legt die Initiative noch stärker in die Hand des Publikums. Vierzig Kugeln aus Sand und Zement, 46 Zentimeter im Durchmesser, auch ihre Oberfläche trägt die Spuren des honiggelben, nahrhaften Kurkumagewürzes, vertraut er völlig dem Gestaltungsdrang des Betrachters an. Der Mensch als homo ludens und homo artisticus nimmt die Aufgabe lustvoll an. In stets neuen Konstellationen schafft sich der Betrachter hier ein Bild der conditio humana, die bestimmt ist vom Unbestimmten. Deren einzige Konstante der Wechsel ist und deren einzige Gewißheit die Ungewißheit, und deren Würde darin besteht, genau dieses Geschick mutig anzunehmen.

Michael Stoeber

Change is the Constant Factor
On Martin Vosswinkel's "Rollfelder" Works.

There is a sort of initiation at the start of Martin Vosswinkel's new series of works. It is an "aha experience" of the almost mystical kind. Until then the artist had created static, block-like, concentrated pictures. Pictures that look like pieces of nature with their cracked and fissured physiognomy. As if they wished to overcome the difference between the beauty of art and the beauty of nature. Only gradually do pigments of colour move into these works without disturbing the impression of natural and nature-like tectonics. The artist distributes earth and colours in his pictures like a peasant sows seed on his land. Yet Vosswinkel's ritualized movements are executed in a highly meditative concentration. Completely absorbed by what he does, the artist with sharpened senses nevertheless registers in a microscopic way what happens in his immediate surroundings.

One day a clump of earth is loosened from a slope as the artist is seeking the prima materia of his art there. It rolls down and leaves in its trail a tiny, hardly visible trace that nonetheless engraves its image in the artist's memory. There it starts growing, becomes ever larger and develops into a pictorial topography that attains its final picture together with a second experience bound up firmly with the first one. With a lump of moist clay in his hand, Vosswinkel stands musing in his studio, bent over one of his canvases. Suddenly part of the clay slips out of the kneading hand and rolls over the picture, leaving an impressive trace. Thus the path to the work series of the "Rollfelder" (Runways) is irrevocably traced, and likewise the artist perceives clearly how to realize these works. A rolling ball will take the place of the painting brush.

Like the brush the ball comes in different sizes and degrees of hardness. Vosswinkel forms the balls from various types of earth which he sometimes mixes with pigments of colour. He crushes and grinds the mixture in a mortar and kneads and forms the balls with the help of water and a binding agent. Depending on the moisture of the balls and the intensity of their colour, the traces they leave on paper or canvas differ greatly. If surface and ball are rather dry the trace will become irregular and cracked. But if the surface is moist and the ball full of colour the traces will be thicker on both sides. The ball does not only assume the role of a brush but also that of a spatula. With the help of the ball the artist is able to lay on colour, but also to rub off colour just as the falling lump of clay formed its trace by carrying off pigments. In any case the traces that these balls leave always look different, they are never identical and have a signature-like appearance. Considering the traces' laconic character this is aesthetically highly appealing. It is primarily the reciprocity of recurrence and difference that provokes the onlooker's eye.

But even if Vosswinkel changes the medium of his artistic creation the aesthetic provocation does not become weaker for the onlooker. Besides the wide range of different balls the artist works with a variety of foam rubber rings cut for his needs in different sizes and formats from foam rubber rolls that are generally used in professional wall painting. In contrast to the often hesitant and groping impression of the ball-traces, the traces left by the rings appear resolute, determined, precise. The lines and structures produced by the rings always seem to show sections of precisely calculated ensembles. Depending on the choice of his medium Vosswinkel produces subjective or objective impressions as if he wished ironically to paraphrase the great controversy between informal and constructive art in the course of the last century. Of course, this only appears to be the case, as both pictures follow the same groping and experimental gesture as if it were the famous gradual fabrication of thought in the course of talking.

The same title "Rollfelder" for both works makes it clear that they belong to the same kind of picture as writing may belong to the same sort of text. To put the necessary order into his extensive production the artist simply numbers the single works, and in doing so the two first numbers always refer to the year when the work has been created. Beside the different gesture of the traces, changing formats and surfaces differentiate Vosswinkel's works. The artist works with canvas, paper and acrylic glass. Sometimes he joins two painted glass plates to form one picture. The doubling has the effect that the complex lines and structures become even more complex. They lead to a sort of spatial effect and the picture becomes a pictorial object (for example "Rollfeld 99108"). In a certain sense a similar effect may be noticed with only one glass plate when its lines and traces are reflected by light, like shadows on the wall behind it (as with "Rollfeld 99128").

Here we come to another important element of differentiation: the way in which the trace invades the pictorial surface. In addition to the all over, when layers and structures of lines cannot be followed or solved any more and look like a rhizome or a Gordian knot projected onto the picture's surface, there is the solitary, lonely line whose course can be easily followed by the eye. It is unnecessary to say that it is accompanied by monochrome sublimity versus polychrome sensuality. While its economical gesture looks pure and cathartic, the labyrinth of lines pulls the onlooker's gaze into a visual turmoil where it threatens to drown. Yet the presumed optical mastering of the lonely line is also only an illusion, an impression that has already been preluded by its shadowy alter ego. The ambiguity that is thus given is further reinforced by the impression of a microscopic or cellular structure that is only given to us as a fragment. Only beyond the borders of the picture will it be completed and become a whole that nevertheless remains unknown to us.

It does not matter how many traces the artist paints and puts on top of each another! Whether it be only a lonely trace or twelve layers of traces, the picture is no longer a window on the world. Or in quite another sense, as meant by Alberti. It is the world seen as a simile. This simile given by the picture reflects the complexity of a world that as a whole withdraws more and more from our comprehension, that we only manage to grasp partly and do not understand completely. If one looks very closely at Vosswinkel's works this dimension is revealed by another difference. The gesture of the pictures is either concentric or excentric. Concentric means that the lines remain within the framework of the picture while the excentric work surpasses these borders. The concentric works do not allow us to perceive either the beginnings or the ends of the lines which represent a sort of closed system that cannot be deciphered in its baroque, circular and labyrinthine growth (compare "Rollfeld 99235").

On the contrary, the excentric works show an open system that cannot be understood either. They provide not a whole, but only fragments, and thus signatures that are highly characteristic of our time (see "Rollfeld 99234") That this basic blindness in relation to the sense of a whole does not have to lead to depression is made clear by the featherlight texture and the optmistic colours of Vosswinkel's pictures as well as by the artist's performances and installations that he did in the context of the ball medium. In 1997 the artist constructed a runway out of 1414 small balls of earth and turmeric, a spice from India. The whole established a loose, but well organized structure as clear and constructive as Vosswinkel's rubber foam traces. Then the artist stepped with bare feet, cautious, but determined, into the rows of balls in order to confuse and disorder its order with the help of gentle but firm kicks. This, too, was a mixture of planning and accident no different from the ball guided by the artist's hand across the paper in both a circling and searching movement. During the second performance Vosswinkel allowed himself to be guided on his walk across the rows of balls by calls, questions and comments from the audience.

Another work from the same year places the initiative even further in the hands of the public. Forty balls made of sand and concrete are placed at the disposal of the people's creative power and will. Their diameter is 46 centimetres and their surface also bears the traces of the honey-coloured and nourishing turmeric. Man in his role of homo ludens and homo artisticus assumes the task with pleasure. In ever-new constellations the people create for themselves an image of the human condition which is determined by indetermination, whose only constant factor is change, whose only certitude is uncertainty and whose dignity consists of accepting exactly this condition with courage.

Michael Stoeber - Translation: Hugh Langridge/Michael Stoeber

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